Der Wolf im Schafspelz
Seien wir ehrlich, wer unter uns pflegt die Gewohnheit, seine Überzeugungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen? Alle jene, die jetzt ehrlich mit einem „ich“ antworten, beweisen Geistesgrösse und Mut. Im allgemeinen sind persönliche Ansichten, seien sie politischer, sozialer, religiöser oder anderer Natur, in Stein gemeisselt. Nehmen wir zum Beispiel den Glauben. Hat eine Glaubensvorstellung einmal Wurzeln geschlagen, kann man diese fast nicht mehr ausreissen. Eine kritische Prüfung der Glaubensinhalte destabilisiert die Gewissheit, erschüttert den Boden unter den Füssen. Das Unterbewusstsein verordnet, einen weiten Bogen um ein solches Unterfangen zu machen und sich nicht auf Experimente einzulassen. Die Kritik am Glauben wir zum Tabu: noli me tangere!
Im allgemeinen neigt der Mensch danach, die eigenen Überzeugungen zu festigen, auch wenn diese rational gesehen unvernünftig sind. Wer hier Beweise erstrebt, muss lediglich die absurden Inhalte von Religionen untersuchen, wohl verstanden, jeder Religion. Dennoch ist es äusserst schwierig, aus dem Gefängnis der eigenen „Wahrheiten“ auszubrechen. Ein Beispiel gefällig? die katholische Kirche feiert jährlich am 15. August die Aufnahme von Maria in den Himmel. Nicht etwa symbolisch, nein, wirklich, mit Leib und Seele. Dieses pittoreske Dogma setzt voraus, dass es irgendwo im All einen Ort gibt, wo Maria mit ihrem Sohn darauf wartet, von den anderen Geretteten nach dem Letzten Gericht eingeholt zu werden. Logischerweise müssen an diesem Ort Verhältnisse herrschen wie auf der Erde. Wie könnte dort sonst ein menschliches Wesen überleben? Vielleicht in einem Astronautenanzug? Ungeachtet dieses Unsinns wird dieses Fest von der katholischen Kirche mit grossem Pomp gefeiert, wo Millionen von Gläubigen an diesem liturgischen Abrakadabra teilnehmen. Die altbewährte Rettungsveste der Theologen ist die Aussage, „für Gott ist nichts unmöglich“, was ausschliesslich zur Verhöhnung der Vernunft dient. Wir wollen die Beispiele solcher mentalen Weigerung nicht vermehren, wenn es darum geht, den Glauben einer kritischen Prüfung zu unterwerfen,
Einer, der dies mit Mut vollbrachte, war Johannes Neumann. Geboren 1929 in Königsberg, flieht er mit 14 Jahren allein aus seiner Heimat. Er studiert Theologie und wird katholischer Priester, Professor und Rektor der Universität Tübingen. In dieser Funktion wird er zum Vorgesetzten von Josef Ratzinger. Sein Verhältnis zum zukünftigen Papst ist nicht ungetrübt. Ratzinger bezeichnet ihn mit einem gewissen Grad von Sarkasmus als Wolf im Schafspelz. Neumann indessen stigmatisiert Ratzinger als Despot. In der Tat, als Johannes gründliche theologische Überlegungen über Gott anstellt gelangt er zum Schluss, dass diese Gestalt zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten aufweist. Er bezeugt seine Zweifel in Diskussionen mit seinen Studenten.
Der Rektor der erwähnten Universität kommt schliesslich zur Einsicht, dass es für ihn nicht mehr möglich ist auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Er verzichtet also auf die „missio canonica“ auf den kirchlichen Lehrauftrag und auf das Priesteramt und tritt aus der Kirche aus. Nicht ohne Zynismus zitiert er einen seiner früheren Professoren, der verkündete, die Kirche wäre nur ein in Purpur gehüllter Misthaufen. Er wird Soziologieprofessor der Rechtswissenschaften und Religionen. Er ist im Vorstand des IBKA (Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten), der Stiftung Giordano Bruno und anderer Organisationen.
Sein Zeugnis: der Abschied vom Glauben ist ein langer und schmerzhafter Prozess. All jene, die diesen Weg, wie er, persönlich verfolgt haben, können die Härte dieser Erfahrung bestätigen.