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Ausbruch aus dem Gefängnis des Glaubens

Der Bischof von Lugano hat sein Amt niedergelegt. Das Stöhnen der Gläubigen war überall hörbar. Irgendwie passt so etwas nicht in das System der katholischen Kirche. Wirklich nicht? Benedikt der XVI., alias Herr Josef Ratzinger tat doch dasselbe. Und hartnäckig berichten einige Medien über ein Gerücht, bald könnte auch der amtierende Papst, Franziskus, seine Abdankung verkünden. Oder ist das schon mehr als ein Gerücht? Kann man aus feststehenden Tatsachen schlüssig ableiten, dass das Oberhaupt der Kirche bald zum emeritierten Papst wird? Warten wir ab!

Natürlich bemühen sich die Medien, diese Aufsehen erregenden Fälle mit systemkonformen Erklärungen zu deuten, nach ihren Gründen zu hinterfragen. Natürlich sind diese nach der offiziellen Deutung mit gesundheitlichen Erklärungen am leichtesten schmackhaft zu machen. Ich masse mir nicht an, in diesen Chor einzustimmen. Es sei mir fremd, eine erfundene Deutung dieser Entscheidungen vorzulegen. Die wirklichen Beweggründe kennen nur die Betroffenen selbst und solange sie diese nicht offenlegen, bleiben sie im Bereich der Vermutungen. Doch einige Fragen drängen sich auf, die auszusprechen durchaus legitim sind. 

Wer, wie der Schreiber dieser Gedanken, jahrelang in einer vom Glauben geprägten Gemeinschaft gelebt hat, wird bestätigen können, zumindest wenn er oder sie zu sich ehrlich ist und wach seine Umwelt beobachtet hat, dass die Zeit wie ein Feuerlöscher wirkt. Eine anfänglich mit Begeisterung und grossem Elan getroffene Entscheidung, das eigene Leben in den Dienst Gottes, d.h. des Glaubens zu stellen, wird durch die Alltäglichkeit des Lebens entschärft, das hehre Ideal wird abgeschliffen, die Glaubenssätze werden durch das Seziermesser der Vernunft tranchiert. Der Alltag ist der Feind der Ideale. Unbemerkt steht der Zweifel im Raum. Die bedrohten, bisher unantastbaren existentiellen Werte bewirken eine grosse Hilflosigkeit. Das blüht auch den Dienern Gottes.

Als erste Reaktion wird der Betroffene alles aufbieten, um nicht vom gewohnten Weg abzuweichen, er wird eine Trotzstrategie zur Verteidigung seines Glaubens entwickeln. Er sucht vielleicht Hilfe. Klagt er seinem Beichtvater über seine Krise, wird er vertröstet: „Deine Prüfung kommt von Gott. Wenn er dich in eine Krise stürzen lässt, wird er dir auch die Kraft geben, diese zu meistern.“ Die Falle schnappt zu. Ihr zu entfliehen ist beinahe unmöglich. Also lieber keine Fragen mehr stellen, die Autosuggestion verstärken und brav im Glauben ausharren. Ohnmacht ist eine bequeme Ruhestätte. Doch hat sich einmal der Zweifel im Geiste eingenistet, so gefährdet er den Glauben. Die Metastase breitet sich aus. Ein langer, schmerzhafter Prozess setzt ein. Der Glaube wird nicht rasch und unbedacht abgelegt, wie ein nasser Regenmantel. Man wurde als Kind infiziert, gewöhnte sich an Credo und Liturgie als versteinerte Selbstverständlichkeit und war nicht in der Lage, Absurditäten zu beseitigen. Die Doktrin erwies sich als stark widerstandsfähig. Wird der Glaube dennoch ungeachtet der Beharrlichkeit der Psyche abgelegt, verlangt der Mensch für dessen Verbannung eine Entschädigung in Form von Ersatzwerten. Zwar bleibt er mit Lippenbekenntnissen den alten, schützenden Inhalten treu, doch hinter vorgehaltener Hand werden unorthodoxe Sätze formuliert. Alternativen sind gefragt und willkommen geheissen. Wissenschaftliche Tätigkeiten (einige Jesuiten haben wissenschaftliche Höchstleistungen vollbracht), die Errungenschaften der Informatik (man nennt das, „für Gott mit der Zeit gehen“), Zen-Meditation (eine originelle Ersatzübung) und andere Ausweichgeleise bieten sich an.

Doch kehren wir zu den abtretenden Kirchenfürsten zurück. Niemand kann sich anmassen, ihre wirklichen Beweggründe für ihre Entscheidung zu deuten, solange die Betroffenen diese in ihrem Herzen verschlossen halten. Heute, wo die persönliche „Privacy“ als oberstes Gut geschützt wird, ist jede Grenzüberschreitung verpönt. Doch eine Vermutung ist keine Behauptung. Angesichts der vielen Entfremdungen des Glaubens, die der Schreiber diese Zeilen bei kirchlichen Amtsträgern aus der Nähe beobachten konnte, kann ein latenter Glaubenszweifel bei den erwähnten Amtsniederlegungen nicht ausgeschlossen werden. Auch Kirchenfürsten haben das Recht, an Gott zu zweifeln. Die Sprecher des Vatikans sind erfahrene Spezialisten im Erfinden von bequemen Wahrheiten, von der Vernebelung aller Informationen, die den angeblichen tadellosen Ruf dieser edlen Vereinigung bedrohen könnten. Es ist also nicht zu erwarten, dass mögliche Geheimnisse der hohen Würdenträger von der Kirche offengelegt werden.