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Der brilliante Haudegen

Bekanntlich sind die Franzosen stark selbstverliebt, so überrascht es also nicht, dass sie das achtzehnte Jahrhundert nach einem der Ihrigen benannt haben: das Jahrhundert Voltaires. Allerdings müssen wir anerkennen, dass diese Bezeichnung nicht ganz abwegig ist. Dieser äusserst vielseitige Denker hat seine Zeit tief beeinflusst.
Geboren 1694 mit seinem ursprünglichen Namen François-Marie Arouet kämpfte er sogleich ums Überleben; er war dermassen schwach, dass niemand daran glaubte, er würde das erste Jahr erleben. Er selbst fuhr fort, bis zu seinem vierundachtzigsten Lebensjahr, seinen frühzeitigen Tod zu erwarten und zu verkünden. Dieser trat dann, nach diversen Fehlversuchen, am 30 Mai 1778 ein. In der Zwischenzeit hat er eine enorme Menge von Gedanken, Schmähschriften, geschichtlichen Werken, Artikeln, Abhandlungen, Polemiken, Komödien und andere Veröffentlichungen verfasst. Er hatte unterrichtet, provoziert, gelobt, lächerlich gemacht und zahllose Kompromisse angenommen. Beachtet man seine vielseitigen Fähigkeiten, kann man ihn unmöglich mit einer Etikette versehen. Dennoch wurde er oft mit Standardbegriffen beschrieben. Wurde er doch oft als Atheist bezeichnet, was jedoch vollständig falsch ist. Er hatte gegen den Aberglauben, gegen die absurden religiösen Behauptungen der Priester und der kirchlichen Einrichtungen gekämpft, aber er bezog nie Stellung gegen ein höheres Wesen, sondern nur gegen die anthropomorphen Aussagen über seine Natur. Es wäre stark einschränkend, seine Sicht auf den berühmten Ausruf «écrasez l’infâme!» zu begrenzen, selbst dann, wenn dieser Schlachtruf oft als verallgemeinernde Definition seiner Ideen verstanden wird. Voltaire war ein Meister von Kompromissen, Entstellungen, Widerrufen und Widersprüchen. Er hasste alle institutionalisieren Kirchen: die katholische, die protestantische, die calvinistische. Er verachtete die gesamte Klasse der Priester, der Bischöfe, des Papstes und aller übrigen Würdenträger. Eine gewisse Ausnahme machte er nur mit den Jesuiten, die ihn in der Jugend erzogen hatten. Ihnen gegenüber hatte er stets einen gewissen Respekt und versöhnliche Gefühle bewahrt. Schliesslich hasste er alle Formen von Fanatismus.
Seine historischen Werke, unter anderem über Karl XII. von Schweden, Peter dem Grossen von Russland und Ludwig XIV, sind, abgesehen von der leicht chauvinistischen Färbung des letzteren, auch heute noch eine gefällige Lektüre.
Auf die Frage, was die christliche Theologie den Menschen anbiete antwortete er trocken: einen hassenswerten Tyrannen, der den Menschen nach seinen Ebenbilde geschaffen hatte, um ihn abscheulich zu machen; er gab ihm ein sündhaftes Herz, damit er ihn bestrafen konnte, gab ihm Gefallen am Vergnügen, nur damit er ihn ewig verfolgen und mit schrecklichen Torturen quälen konnte. Kaum hatte er uns erschaffen, da beeilte er sich, uns zugrunde zu richten. Und der Sohn Gottes, der für seine Mildtätigkeit hochgelobt wird, ist gemäss der Beschreibung nur darauf aus, mit Anmassung den Grossteil der Menschen in die Hölle zu stürzen. Gott existieret, doch er nimmt nicht teil an den irdischen Belangen der Menschen. Die Existenz Gottes wird nicht durch den Glauben, sondern durch die Vernunft begründet. Mehr als die Existenz kann der Mensch nicht über Gott wissen: er kennt seine Attribute nicht und kann seinen Eingriff in die Geschichte nicht vernehmen. Der Gott der Deisten hat mit dem Gott der geschichtlichen Religion nichts gemein. Auch Gut und Böse sind keine Prinzipien, die dem Göttlichen anhaften, sondern sind geschichtliche Attribute, die ausdrücken, was für die Gesellschaft nützlich oder schädlich ist.
Da er ein bissiger und glänzender Geist war, überrascht nicht, dass er zweimal in der Bastille eingesperrt war und unter Hausarrest gestellt wurde.
Er geisselte hart die christliche Lehre, den Sündenfall, die Eucharistie, das Leiden Jesu, das Paradies und viele andere christliche Lehrsätze. Mit dem ihm bekannten Sarkasmus spottete er über das Abendmahl: die Papisten würden Gott essen, die Lutheraner Brot und die Kalvinisten Gott mit Brot. Der Himmel wäre der grosse Schlafsaal der Welt.
In seinem Theaterstück «Mohamed» greift er zwar den Propheten an, wurde aber von vielen so gedeutet, und dies nicht grundlos, als würde er die theologischen Thesen der Kirche angreifen: «wer zu denken wagt, ist nicht geboren, um an mich zu glauben». Das ist ein Dogma aller Glaubenskünder.
«Falls Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, haben wir es ihm glänzend zurückbezahlt, in dem wir ihn nach unserem Bildnis geschaffen haben».
Voltaire behauptete, er hätte mehr als zweihundert Bücher über christliche Themen besessen und gelesen. Sein Kommentar: «es schien mir, ich wäre in einem Irrenhaus.» Was soll man einem antworten, der euch sagt, dass er es vorzieht, Gott zu gehorchen als den Menschen und der folglich sicher ist, sich das Himmelsreich dadurch zu verdienen, dass er euch die Kehle durchschneitet?
Der grundlegende Punkt ist der Kampf gegen den Fanatismus, also gegen die Religion, insbesondere gegen den christlichen Glauben. «Die Dogmen sind aus Absurditäten gewoben. Der Kampf, die Verfolgungen und die Akte der Unduldsamkeit ernähren sich aus religiösen Vorwänden, sind aber von politischen Zielen gelenkt. Die Priesterklasse bedient sich dieser Mittel, um weltliches Reichtum und Macht anzuhäufen.»
In einigen kritischen Situationen seines Lebens, etwa als er an Pocken erkrankt war und überzeugt war sterben zu müssen, wurde er von Unsicherheit gepackt und versuchte eine Lebensversicherung für das Jenseits abzuschli8essen, indem er in Erwartung des Todes sogar die Beichte abgelegt hatte. Gegen das Ende seines Lebens hat er seine Meinung revidieret und anerkannte eine gewisse Nützlichkeit der Religionen, aber nur jener, die den Menschen Moral beibrachten. Als der Tod schliesslich wirklich an seine Türe klopfte, verliess ihn sein Mut gänzlich. Eine Krankenpflegerin berichtet, er hätte die ganze Nacht um Vergebung geschrien. Allerdings wurde dieses Zeugnis von vielen als Versucht der guten Frau gewertet, den grossen Schriftsteller heimlich ins Paradies zu schmuggeln. Der Pfarrer von Saint-Sulpice, der ihm mit den Sterbesakramenten beistehen wollte, hatte berichtet, dass ihn Voltaire zurückgewiesen hat und er somit als Philosoph und nicht als Christ gestorben war.
Wie es dem auch sein, dieser gigantische Geist hatte den Samen der Vernunft ins Erdreich des menschlichen Denkens gesät, der sich später zu einer kräftigen Pflanze entwickelt hat. Es braucht aber noch viel Zeit, damit diese Pflanze das Unkraut des Aberglaubens überdeckt.