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Der Pfaffenschreck

Kennt ihr den Herrn Claude-Adrien Schweitzer? Nein? Vielleicht sagt euch sein lateinischer Name mehr: Helvétius. Geboren 1715 in Paris, wurde er zum schärfsten Gegenspieler der katholischen Kirche und der Religionen. Seine Erziehung in einem Jesuitenkolleg konnte es nicht verhindern, dass dieser Philosoph einer der hitzigsten Freidenker in Frankreich wurde. Von einem Zweig einer Schweizerfamilie stammend hat er sich zuerst in den Niederlanden später dann in Paris unter dem Namen Helvétius niedergelassen. Sein Vater, Jean-Claude-Adrien Helvétius war Arzt der Königin Marie Leszczynska. Er hatte zwanzig Kinder, unter denen Claude-Adrien zur grössten Bekanntheit gelangte. Nachdem er die Bekanntschaft von Voltaire gemacht hatte, haben sich bei den grossen Namen der französischen Aufklärung für ihn geöffnet. Der Einfluss dieser Persönlichkeiten hat seine Sicht von der Welt tiefschürfend verändert. Er verfasste ein Werk mit dem Titel „De l’esprit“, das die Wirkung einer Bombe hatte. Die darin enthaltenen Thesen waren dermassen radikal, dass selbst Voltaire darob erschrak und es für nötig hielt, darauf eine Entgegnung zu schreiben. Das Buch wurde entweder mit Begeisterung gelesen, oder aber mit Ablehnung verboten und verbrannt. Die Verurteilungen kamen von den Jesuiten, von den Jansenisten, von der Sorbonne, vom Erzbischof von Paris, vom Parlament von Paris und von vielen anderen. Sein Angriff auf die katholische Kirche war heftig. Er vertrat die Meinung, dass die Priester die Macht und das Reichtum mit der Aussicht auf zukünftige Hoffnung und mit der Erpressung durch Angst aufrechterhielten. Ihre Macht stützte sich auf die Leichtgläubigkeit der abergläubischen Leute. Aus diesem Grund hat die Kirche die unteren Bevölkerungsschichten von einer höheren Bildung ausgeschlossen. Die Unwissenheit der Masse hat das Gehorsam und die Unterwerfung konsolidiert. In allen Religionen haben die Priester versucht, die Neugier der Gläubigen zu unterdrücken, um die Überprüfung der Glaubensinhalte zu verhindern, deren sinnlose Widersprüche im Lichte der Vernunft zu offensichtlich waren.
Helvétius deutete den von den Priestern verkündeten Gott wie eine Art orientalischen Despot, der die Menschen mit ewiger Pein und Folter für kleine Verfehlungen bestraft. Deshalb ist die Aufgabe der Philosophie die Schaffung einer vom religiösen Glauben unabhängigen Moral.
Helvétius hat sich ein enormes Vermögen angehäuft, zuerst als Steuereintreiber, später dann als Kammerherr der französischen Königin. Dennoch kritisierte er mit harten Ausdrücken die ungerechte Verteilung der Güter in der Gesellschaft. In allen Ländern finden sich, so seine Kritik, zwei Arten von Untertanen: der ersten fehlt das Lebensnotwendige, während die zweite im Überfluss schwelgt. Was hier Helvétius äussert, ist keine überraschende Entdeckung. Man möge die geschichtliche Analyse der sozialen Zustände in Frankreich vor der Revolution von Alexis Tocqueville lesen, um sich darüber Rechenschaft abzulegen welch skandalöse Ungerechtigkeiten in diesem Land herrschten. Diese Feststellung wurde von vielen Lippen bekannt, aber die Lösungen einer gerechten Verteilung der Reichtümer hatten nie ein langes Leben.
In den Werken von Helvétius sind praktisch alle Ideen der Französischen Revolution und der darauffolgenden Sozialbewegungen zusammengefasst. Die gebildeten Kreise in Frankreich haben ihn auf die Stufe von Voltaire, Rousseau und Diderot gestellt.
Helvétius verkündete, dass alle Menschen von der Geburt an gleich seien und lehrte, die individuelle Entwicklung der einzelnen sei Ergebnis der Erziehung. Eine solch provokatorische Sicht konnte nicht widerspruchslos bleiben, selbst bei den religionslosen Denkern nicht: Voltaire hat entgegnet, dass die (genetische) Vererbung wohl eine Tatsache ist, aber ein Genie geboren und nicht konstruieret wird.
Helvétius leugnete die Existenz Gottes nicht, hat aber seine durch die Religionen vertretene Konkretisierung verworfen, was nach seiner Sicht lediglich die Beherrschung der Menschen bedeutet, um die Unwissenheit und eine leichte Ausnützung aufrechtzuerhalten.
Helvétius stirbt 1771, fast zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution, ohne zu erleben, dass viele seiner Ideen von den Aufständischen verkündet wurden. Vielleicht hätte die Wut der Massen auf die Reichen auch ihn aufs Schafott geschickt.