Die Maske
Heute möchte ich über einen einfachen Landpfarrer sprechen. Nicht von einem jener rundlichen Sorte, die ihre fleischigen Hände über den gewölbten Bauch falten, auch nicht vom Typ Don Camillo, der mit idealistischen Kampfparolen keine Kompromisse eingeht, zuweilen auch nicht mit dem göttlichen Chef. Ich spreche vom „anonymen Heiligen“, der im Alltag die Idee des Altruismus, dem Gegenspieler der menschlichen Natur, zu verwirklichen sucht.
Jean Meslier (1664-1729) war Pfarrer von Etrépigny, einem kleinen Dorf in Frankreich. Betrachtet man sein Leben, steht es fest, dass er ein Kandidat für die Seligsprechung war. Während gut dreissig Jahren war Meslier ein Vorbild für seinen strengen Lebensstil und für seine Barmherzigkeit. Von seinen bescheidenen Einkünften gab er den Teil, den er nicht für seine monatlichen Bedürfnisse benötigte, den Armen. Er tröstete seine Herde von der Kanzel, im Beichtstuhl und mit den Sakramenten der Kirche und legte ein seltenes Zeugnis von Tugend ab. Wie gesagt, er war ein echter Kandidat für den Titel „HeiligerJean Meslier“. Wie kommt es aber, so wird man mich fragen, dass ein solcher Tugendbold nicht heiliggesprochen wurde? Die Antwort liegt in seinem geistigen Testament.
Meslier hat als Nachlass drei Kopien seiner Gedanken zurückgelassen (er hatte vorsichtshalber Sicherheitskopien erstellt, für den Fall, dass eine Abschrift hätte zerstört werden können). Er hat damit begonnen, dass er sich bei seinen Gläubigen entschuldigt hatte, dass er während seines ganzen Lebens Irrtümern und Vorurteilen gedient hatte. Er hätte, so sein Bekenntnis, nur dem Willen seiner Eltern gehorcht, als er Priester wurde, ein fragwürdiger und heute nur schwer verständlicher Gehorsamsakt. Sein Verhalten war aber folgerichtig, denn er hat mit bewundernswürdiger Ehrlichkeit die getroffene Wahl verwirklicht. Insgeheim aber, in seinen Gedanken, war er ein Rebell.
In seinem Testament hat er einen Kreuzzug gegen die Bibel und gegen die Glaubensinhalte geführt. Er hat die Widersprüche der Evangelien aufgezeigt und verurteilt, er nahm Anstoss daran, Jesus wäre ein Nachkomme Davids, eines miesen Ehebrechers. Er hat die Wunder entkräftet und sie als natürliche Erscheinungen gedeutet, die von den Menschen nicht verstanden wurden, den Gott der Theologen als ein böswilliges und schlechtes Wesen gegeisselt, das Paradies als Zufluchtsort für wenige, durch einen launenhaften und ungerechten Gott Erwählte gedeutet, da doch die Mehrheit der Menschheit ohnehin in der Hölle landen würde, wie dies die Moraltheologie vorsah. Er hat den Glauben an der Vorsehung verworfen, weil diese erbärmlich und von einem unehrlichen Gott gelenkt war. Mit einem Wort, hat Meslier es abgelehnt, die Vernunft dem Glauben zu opfern. Er hat die verheerenden Folgen des Aberglaubens und der religiösen Betrügerei aufgezeigt.
Nach diesen Bekenntnissen hat das Projekt der Heiligsprechung Schiffbruch erlitten. Seine Lehre hat sich nicht auf das Christentum beschränkt, sondern auf alle Religionen ausgeweitet. philosophisch vertrat er einen atheistischen Materialismus: die einzige ursprüngliche Wirklichkeit ist die Materie, alle natürlichen Phänomene, einschliesslich dem Menschen, sind von Atomen erzeugt; das Immaterielle kann nicht Materielles hervorbringen.
Diese radikale Sicht hat sogar einige Vertreter der Aufklärung schockiert. Voltaire, ein Denker, der mit den Religionen nicht sanft umging, „zitterte vor Entsetzen bei der Lektüre“ und hat nur einen Auszug des Testamentes veröffentlicht und hat es nicht gewagt, die radikalsten Gedanken von Meslier vorzustellen, indem er die Härte der Schrift durch eine deistische Version abgeschwächt hatte. 1775 hatte das Parlament von Paris verordnet, die Schrift zu verbrennen.
Auf der sozialen Ebene war (und bleibt) das Testament ebenfalls revolutionär: der absolutistische Staat der französischen Könige und die katholische Kirche, Meisterin der Unterdrückung des Gewissen der Gläubigen durch die Furcht vor ewigen Qualen, müssen zerschlagen werden.
Meslier verteidigte dem Menschen gegen alle Arten der Unterdrückung.
Aus der Ferne vernimmt man das Donnergrollen der Französischen Revolution.