back 

Der wurmstichige Glaube

In der Geistesgeschichte begegnen wir Denkern, die sich zwar als Gläubige bekannten, aber mit ihren Gedanken dazu beitrugen, an den Grundfesten der Religion zu rütteln. Sie betonten, dass sie an Gott glaubten, wobei man sich ab und zu fragen muss, wie sie einige ihrer Ansichten mit dieser Behauptung unter einen Hut bringen konnten. Vielleicht war es die psychologische Verwurzelung der Glaubensinhalte, die ihnen, wie vielen anderen, in der Kindheit eingetrichtert wurde. Vielleicht war es bloss kluge Vorsicht, denn die katholische Kirche besass eine erhebliche, unterdrückerische Macht. Vielleicht war es verängstigte Vorsicht, es könnte schliesslich doch etwas am Glauben liegen. Doch sie haben durch die Türspalte auf eine Welt gespäht, die anders aussah als in der Bibel beschrieben.
Als ersten wollen wir Giambattista Vico (1668-1744) anführen, einen wichtigen neapolitanischen Denker. Er versteht die Geschichte als Entwicklung dreier Phasen. Die unterste Ebene, die von den anderen abgelöst wird, ist jene der Götter: der Mensch „erkennt“ die Welt als Produkt eingebildeter Ursachen, die Phänomene werden als Werk der Götter verstanden, weil der Mensch noch nicht fähig ist, die wirklichen wissenschaftlichen Ursachen aufzudecken. Vico hatte es nicht gewagt, den Gott des Alten Testamentes in die Gesellschaft dieser Götter einzuordnen, zog es vor, durch mentale Kontorsion ein System vorzuschlagen, das die Lehre der katholischen Kirche zu retten bemüht war. Doch sein Ansatz war zweifellos dazu geeignet, die Grundsätze des Glaubens zu erschüttern.
Sein Gedanke wurde vom Universalgenie Robert Jacques Turgot (1721-1781) aufgegriffen. Minister der französischen Marine, dann Finanzminister, Intendant der Provinz Limoges, Ökonom und Schriftsteller war er auch Philosoph.  In utilitaristischer Manier bejaht er die Rolle des Christentums für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, als Bedingung für die zivilisierte Gesellschaft. Er lässt sogar dem ewigen Seelenheil eine Chance, doch auch bei ihm muss man sich fragen, ob hier nicht ein Konstrukt für die Wahrung eigener Interessen vorliegt. Jedenfalls konnte man zu seiner Zeit in Frankreich ziemlich radikale religionsfeindliche Meinungen vertreten. Ähnlich Vico’s Einsichten sieht er in der Menschheitsgeschichte die göttlichen Gestalten als Ausdruck eingebildeter Ursachen aller Erscheinungen, die der Mensch noch nicht wissenschaftlich erklären konnte. Später wurde Gott, der aus dieser Vision entstand, als “Lückenbüssergott“ definiert. So haben diese Menschen den Himmel als eine grosse, belebte Körperschaft verstanden, wo sich unter dem Kommando des ersten Gottes und beim Schauspiel von Donner und Blitze andere Götter tummelten, die all das verkörperten, was die natürliche Neugier der Menschen, der Tochter der Unwissenheit, erweckt. Auch er nennt diese Zeit jene der Götter, wo die ersten Theologen die Fabel des Glaubens zu weben begannen. 
Pierre Jean Georges Cabanis (1757-1808) geht in seinem Werk über das Denken der Aufklärung hinaus. (Immanuel Kant gibt auf die Frage, was Aufklärung sei zur Antwort: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seiner Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere audet! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.) Die Schlüsse von Cabanis nehmen annähernd die Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaft vorweg. Das Gehirn erarbeitet die von den Sinnen erhaltenen Eindrücke, formt sie in Ideen um und ordnet sie in Urteile (ähnlich der Tätigkeit der Verdauung). Dies gilt auch für die religiösen Inhalte. 
Im Kunstmuseum von Basel ist ein Gemälde von Hans Holbein d.J. mit dem Titel „Adam und Eva“ zu sehen. Eva reicht dem Adam den Apfel, aus welchem ein Wurm herauskriecht. Dieser, und wohl nicht nur dieser, Glaubensinhalt ist wurmstichig.