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DAS NADELÖHR

Im Kampf der Begehrlichkeiten prallen seit eh und je die Waffen der Habenichtse und der Besitzender aufeinander. Pierre-Joseph Proudhon und Karl Marx haben als erste die Situation der Besitzlosen systematisch analysiert, doch waren sie beileibe nicht die ersten, die sich mit dem sozialen Ungleichgewicht beschäftigt hatten. Tiberius Sempronius Gracchus, Jesus von Nazareth, Georg Dozsa und viele andere haben das altbekannte Problem thematisiert. Im Languedoc, dem südlichen Zentralfrankreich, begann 1397 ein sechsjähriger Guerillakrieg der hungernden Bauern gegen Adel und Geistlichkeit, den einer der Rebellenhäuptlinge unter dem leicht verständlichen Motto führte: “Wer weiche Hände hat, wird aufgeknüpft.“ (Vgl. W. Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 17. S. 129). Natürlich sahen es die Reichen damals wie heute anders. La Bruyère, französischer Schriftsteller zur Zeit Ludwigs XIV. fand es für richtig, dass es Arme gibt, denn sonst wäre es schwierig, Dienerschaft zu finden, und niemand würde in den Bergwerken arbeiten und auf den Äckern die Erde bestellen wollen. (W. Durant. a.a.O Bd. 23 S. 278).
Wenn man bedenkt, dass es in der ägyptischen Mythologie selbst im Jenseits Herren und Diener gab, so ist letzten Endes alles nur eine Frage des richtigen Pedigrees.
Vor Jahrzehnten habe ich in einer Studentenzeitung den – nicht ernst gemeinten – Streikaufruf lanciert, die Armen mögen durch Enthaltsamkeit auf die Zeugung der Nachkommenschaft verzichten. So müssten die Reichen ihren Kindern das Arbeiten beibringen. Doch jene „infernalische Peitsche“ (Schopenhauer), die den Menschen zur Fortpflanzung antreibt, vereitelt diese Lösung. Also zeugen arm und reich weiter, um einander gegenseitig umzubringen. Sowohl beim Proletariat wie auch bei der Herrscherklasse geht es um Diktatur: der Diktatur des Habenwollens.