Der Totengräber Gottes
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘
Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter.
Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere.
Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander.
Der tolle Mensch entgegnet der Menge: ich sage es euch. Wir haben ihn getötet, ihr und ich. Mit pathetischer Verve fährt er fort: wie haben wir das angestellt? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Hören wir die Geräusche der Totengräber, die Gott beerdigen? Riechen wir den Verwesungsgeruch Gottes?“
Die Leute starren den tollen Menschen mit erstauntem Schweigen an. Als er merkt, dass sie ihn nicht verstehen schmeisst er die Laterne zu Boden und sagt: ich komme zu früh. Er geht in die Kirchen, wo er seine Botschaft wiederholt und das Requiem aeternam anstimmt. Dann wird er hinausgeschmissen.
Der Verfasser dieser Zeilen, Friedrich Nietzsche greift damit die gesamte Kultur des Westens an, Gott und die religiösen Werte. Idole umzustossen, und damit meint er „Götzen“, ist mein Beruf, erklärt er. Das Christentum hat gemäss Nietzsche die „ursprüngliche“ Hierarchie der Werte auf den Kopf gestellt, so kämpft er gegen das Christentum. Auch wenn seine Zeit, so sagt Nietzsche, nicht mehr stark vom Christentum im religiösen Sinne bestimmt ist (schön wär’s!), bleibt es bestimmend im moralischen Bereich. Religion schafft eine Herdenmentalität, die in die politischen und sozialen Einrichtungen die sichtbaren Auswüchse dieser Moral getragen hat. Er behauptet, die Moral sei das Resultat gewisser menschlicher Verhaltensweisen, man müsse also die Moral selbst widerlegen. Das vom Christentum propagierte „Gewissen“ ist nicht die Stimme Gottes, sondern bloss jene der Machtstrukturen und der von ihnen abgeleiteten Erziehung. Gott ist eine grosse, uralte Lüge. Tatsächlich imitiert der Moralist nichts anderes als Gott: Gott aber, dieser höchste Immoralist, bringt es fertig, ein „guter“ Gott zu bleiben.
Nachdem die Idole entlarvt sind, befindet sich der Mensch am Rande eines Abgrundes, der „Tod Gottes“ genannt wird. Der Tod Gottes ist der Übergang zur Geburt des Übermenschen. Seit Beginn ist der christliche Glaube ein Opfer: ein Opfer der Freiheit, des Stolzes, der Sicherheit des Geistes. Der Glaube ist ein Axiom, das etwa soviel Wert hat wie die Leugnung der Farben durch einen Blinden. Zugleich wird er zur Selbstverhöhnung, Versklavung und Selbstzerstörung.
Wir können hier nicht all die zahllosen philosophischen Gedanken Nietzsche’s aufzählen, wollen uns lediglich auf den Begriff des Freidenkens beschränken. Er behauptet mit Entrüstung, dass sich der Mensch herabgesetzt hat, indem er alles, was gross und stark ist als übermenschlich und als ihm fremd begriff. Er hat zwei Bereiche unterschieden, einen äusserst elenden und schwachen und einen sehr starken und überraschenden und nannte den ersten „Mensch“ und den zweiten „Gott“. Die Religion hat den Begriff „Mensch“ entwertet mit der Folge, dass alles, was Gut, Gross, Wahr und Übermenschlich ist von der göttlichen Gnade abhängt. Die Unterwerfung unter das Christentum ist wesentlich auf das Verständnis gegründet, dass as Christentum eine Herdentierreligion ist, die Gehorsam verlangt. Die Christen zu beherrschen ist leichter als die Nicht-Christen zu unterwerfen. Der Papst hat dem Kaiser von China mit diesem Gedanken eingeflösst, das christliche Propaganda zu fördern.
Hat man bemerkt, so fragt sich Nietzsche, dass im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? Die Kirche hatte alle grossen Menschen in die Hölle geschickt, sie bekämpft die Grösse des Menschen.
Gegen das Ende seines Lebens erkrankte Nietzsche, litt unter starken Migränen, unter Sehstörungen, unter Brechanfällen und Wahnsinn. Seine Gegner sahen in diesen Krankheiten das Ergebnis seiner Philosophie und behaupteten, ein kranker Geist könne nur eine kranke Philosophie hervorbringen. Später wandelte sich dieses Verständnis: die Krankheit bewirkt eine Intensivierung der geistigen Empfindlichkeit, was am Ursprung einer gesteigerten Kreativität stehen kann.