Der gebildete Physiker
Im Jahr 335 v. Chr. wird in Lampsacos, an der Küste der Dardanellen, der griechische Denker Straton, genannt „der Physiker“ geboren. Seine enorme Bildung war weltweit bekannt, sodass ihn der ägyptische Pharao mit einem fürstlichen Lohn berief, seinen Sohn, den späteren König Ptolemaios II. zu unterrichten. Gemäss einiger Zeugen hatte er über 40 Werke verfasst, von denen unglücklicherweise nur wenige Fragmente übergeblieben sind. Wir finden seine Gedanken in den Kommentaren und Berichten der glaubwürdigen antiken Schriftsteller, die seine Schriften im Original lesen konnten. Allerdings besteht die Gefahr, dass Sekundärquellen die Gedanken von Straton interpretativ wiedergeben, was die ursprüngliche Aussagen entstellt. Obschon er Schüler von Aristoteles war, verwarf er einige wesentliche Punkte der Lehre seines Meisters. Doch wir wollen uns nicht bei diesen Meinungen aufhalten, sondern uns auf die Vision der Welt konzentrieren. Er erhielt den Übernamen „Physiker“, weil sich seine Forschung vorwiegend auf die Natur richtete. Hierin hat er sich als Freidenker ausgezeichnet. Ein Fragment seiner Schriften befindet sich in der Bibliothek der Mönche vom Berg Athos. Hier wird der Ursprung und das Ende der Welt gedeutet. Bei der Lektüre dieser Sätze entsteht zuerst der Eindruck, Straton glaube an eine Erschaffung der materiellen Dinge, weil diese nicht ewig und für sich wären. Dann folgt aber die Unterscheidung zwischen materiellen Dingen und der Materie selbst. Letzteres weist keine Zeichen des Verfalls auf oder der Sterblichkeit und nicht einmal ein Zeichen eines Anfangs. Es benötigt keine Ursache oder Kraft ausserhalb sich selbst. Man könnte denken, Straton würde hier einen Schöpfergott, eine erste Ursache postulieren. In der theologischen Sicht ist Gott der Schöpfer der Materie und nicht die Materie selbst. Im Gedankengut von Straton hat es indessen keinen Platz für transzendentale Beeinflussung durch Götter, weil sich der Materie innwohnende Mechanismus, insbesondere der Natur, einzig durch die Entwicklung seiner Möglichkeiten wirkt. Er akzeptiert für die Wissenschaft keine philosophischen Einmischungen, oder noch weniger theologische oder metaphysische Erklärungen für die Naturphänomene. Die Materie ist ewig. Straton hätte leicht die Theorie des Big Bang in seine Weltanschauung einbetten können.
Seine Theorie über das Ende der Welt, die gemäss einigen Denkern erst viel später verfasst wurde, sieht die Zerstörung des Sonnensystems, nicht aber jene der Materie vor. Eine überraschende Sicht, die mit den Schlüssen der modernen Astronomie vereinbar ist, die zum Schluss kommt, dass etwa in 5 Milliarden Jahren die Sonne explodieren wird und folglich die Planeten zerstören wird: eine Szenerie, die die nostalgischen Verfechter eines Jenseits, eines ewigen Lebens auf die Bühne ruft. Allerdings finden wir in den Fragmenten von Straton von Lampsaco keine ähnliche Fluchtwege. „Denn Erde bist du und zur Erde musst du zurück“ (Genesis, 3,19). Straton hätte das so formuliert: du bist Materie und zur universalen Materie wirst du zurückkehren.