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DAS TUT ECHT WEH, IHR GESETZGEBER

Im Leben hat jeder viele Prüfungen zu bestehen. Denn schließlich ist der Alltag voller Tücken, die nur durch gründliche Vorbereitung zu bewältigen sind. Da ist zuerst die Schule, dann die Religion, die als Krönung des Unterrichts ein Examen abverlangen. Dann geht es weiter. Will man sich im Verkehr bewähren, so legt einer die Fahrprüfung ab; will sich einer einbürgern, so muss er seine Integration vor einer Kommission beweisen, möchte jemand einen Hund halten, so legen er und der Hund ein Examen ab. Da sollte man meinen, für die schwierigste Aufgabe im Leben wäre auch eine Prüfung vorgesehen, nämlich für die Kindererziehung. Nein, da wird jeder seinem natürlichen Talent überlassen. Wer erinnert sich nicht an die Diskussion über die antiautoritäre Erziehung, wo Befürworter und Gegner mit beinahe sektiererischem Eifer ihre Überzeugungen vortrugen. Die sich im Wildgehege der Zwanglosigkeit frei bewegenden Kinder terrorisierten Eltern, Nachbarn, Lehrer und Fürsorger und wurden in den meisten Fällen zu exemplarischen Egoisten. Andere riefen nach Strenge und Ordnung, wieder andere nach nichts. Mein Psychologieprofessor an der Universität versuchte ein Gleichgewicht zu predigen, das ich vor mehr als vierzig Jahren in meinem ersten Artikel in einer Zeitschrift, „Eltern“ hieß sie, über das Problem, ob Kinder Äpfel stehlen dürfen, der Weltöffentlichkeit zu Bewusstsein bringen suchte. „Ja“ bedeutete Freiheit, „nein“, Ordnung, mit meiner persönlichen Tendenz zur Ordnung. Die Kontroverse ist noch nicht ausgestanden. Als erstes deutsches Bundesland räumt Berlin dem Lärm von Kindern per Gesetz ausdrücklich Schutz ein und weist verärgerte Nachbarn damit in die Schranken. Von Kindern verursachte Geräusche seien künftig auch juristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu beurteilen. Die Nachbarn sollen also ruhig sein, wenn Kinder ihnen bei der Arbeit, beim Lesen, Musikhören oder einfach beim Mittagsschlaf die Nerven strapazieren. (Vgl. Neue Zürcher Zeitung, 7. Februar 2010, S. 5). Natürlich brauchen die Kinder nicht zum sozialen Verhalten erzogen zu werden, natürlich müssen die Eltern kein Examen ablegen, wie man diese Gören in die Schranken weist. Auch im anderen Extremfall nicht: in Kambodscha erboste sich eine Mutter über ihre dreizehnjährige Tochter, die während eines Festes in eine nahe gelegene Pagode entwischte. Diesem Treiben musste Einhalt geboten werden, fand die Erzieherin und nagelte, um weitere Ausgänge zu verhindern, den rechten Fuß der Tochter kurzerhand an den Boden. (Vgl. Corriere del Ticino, 28 November 2002, S. 60). Müsste nach der Berliner-Justiz das Geschrei der leidenden Tochter auch in den „zumutbaren“ Rahmen fallen?