WIE HABAKUK DIE WELT ERLEBTE 2
Kürzlich kam ich, mein guter Onkel Habakuk, durch ein kleines Land. Die Grenzen waren hier so eng gesteckt, dass man keinen Platz hatte, die ganze, zur Verfügung stehende Oberfläche auszubreiten. Da man das Land aber irgendwie unterbringen musste, tat man dies behelfsmäßig und zwängte die Fläche in die engen Grenzen. Das Land sah dann aus, wie ein zerknittertes Blatt Papier mit großen Furchen und Unebenheiten, die man „Alpen“ benannte. Dem Ländchen aber gab man den Namen „Schweiz“.
Das Schöne in diesem Lande ist, dass es hier keine Tyrannen gibt (abgesehen von einigen Schwiegermüttern). Das Volk regiert sich selbst, und wenn eine wichtige Entscheidung zu treffen ist, wird das nicht durch Magnaten und Könige gefällt, sondern eben durch alle Männer (und in der neuesten Zeit auch von allen Frauen). Man veranstaltet eine Volksbefragung und jeder Bürger darf seine Meinung äußern. Der Wille der Mehrheit wird dann umgesetzt, Willkür und Zufall, die nur zu oft das Geschick der Menschen lenken, sind hier aus dem Leben der Gesellschaft gebannt.
Ich habe kürzlich eine solche Volksbefragung erlebt. Man hat darüber entscheiden müssen, ob man den Fremden, die durch das Land ziehen, eine Glocke um den Hals binden soll, damit jeder schon von fern gewarnt sei und so beizeiten diesen Leuten aus dem Wege gehen könne. Ich habe mich, lieber Onkel Habakuk, auf dem Dorfplatz eingefunden, denn ich wollte die Volksbefragung aus der Nähe erleben. Sicherheitshalber habe ich meiner Eselin Ruhla eine Glocke umgehängt und für mich hielt ich ebenfalls ein Glöcklein bereit, damit ich es je nach Ausgang der Sachen mir gleich umbinden konnte.
Man hat mir gesagt, es würden in diesem Dorfe hundertneunzehn Schweizer wohnen. Bis zum Abend kamen jedoch nur dreiunddreißig vorbei, um ihren Willen kundzutun. Einundzwanzig sprachen sich für die Glocke aus. Da sich aber sechsundachtzig nicht blicken ließen, ging die Befragung so aus, dass die einundzwanzig Menschen bestimmen konnten, was alle hundertneunzehn betraf. Ich war etwas überrascht, dass so wenige ein neues Gesetz erlassen konnten. „Die anderen hatten dazu keine Meinung“, sagte mir einer.
Da kam mir der alte Solon, Athens Gesetzgeber in den Sinn. Der hatte rund zweieinhalb Jahrtausende vorher ein Gesetz erlassen, welches jeden für ehrlos erklärte, der sich bei einem Aufstand zu keiner Partei schlug. Damals konnte man sich nicht so leicht aus den politischen Wirren heraushalten, wie heute in der Schweiz. Jeder hatte sich also eine Meinung zu bilden. Was jedoch den Schweizern zum Vorteil gereicht ist, dass einer, der keine Meinung hat, sie auch nicht jedes Mal zu ändern braucht, wenn der Wind aus einer anderen Richtung zu wehen beginnt.
Übrigens, lieber Onkel Habakuk, ich habe mich inzwischen schon recht gut an das Glöcklein gewöhnt, das ich um den Hals trage. Nur meine Eselin Ruhla bäumt sich stets gegen ihr Schicksal auf, mit der Begründung, sie wäre doch kein Schaf. Wie wenn ein Schaf dümmer wäre als eine Eselin.