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WIE HABAKUK DIE WELT ERLEBTE: 1 ( VORWORT)

Es ist schon sehr lange her, dass Ibrahim seinen Briefwechsel mit Onkel Habakuk begann. Damals war er noch ein Jüngling mit flaumigem Bart und mit kräftigen Armen. Inzwischen lastet das Gewicht vieler Jahre auf seinen Schultern. Heute ist sein Gesicht von tausend Falten durchfurcht und der Wanderstab zittert in seiner müden Hand. Denn Ibrahimn ist sehr-sehr alt. Viertausendsiebenhundertzwölf Jahre alt, wenn man genau sein will. Das gibt es nicht, wird mir jeder sagen, so alt kann dieser Ibrahim nicht sein! Und doch ist es so; sein Onkel Habakuk ist sogar noch etwas älter.
Dieser Habakuk schickte einst vor Jahrtausenden seinen Neffen auf die Reise.
Geh, Ibrahim, sprach er, und schau dir die Welt an! Reise mit offenen Augen, betrachte aufmerksam, was dir begegnet und suche die Wahrheit über den Menschen. Du sollst herausfinden, woher der Mensch kommt und wohin er geht, was in seinem Herzen wohnt, warum er liebt oder hasst, warum er lacht oder weint.
Der Jüngling Ibrahim sattelte fügsam seine Eselin Ruhla, lud ihr zwei Reisesäcke auf und ergriff den Wanderstab. Voreilig versprach er seinem Onkel, bald wiederzukehren, um die gestellten Fragen zu beantworten. Als Habakuk dies hörte, schmunzelte er verstohlen. Er bat seinen Neffen, ihm zu schreiben, was in der Welt zu sehen ist und liess ihn ziehen.
Seit jenem Tag treibt sich Ibrahim in der Welt herum, wandert rastlos von Land zu Land und sucht die Antworten auf die Fragen seines Onkels. Er schreibt ihm oft und berichtet, was ihm widerfährt. Doch die Wahrheit über den Menschen war ihm noch nie begegnet.
Die Schilderungen Ibrahims haben sich mit der Zeit angehäuft. Seine Briefe füllten allmählich grosse Bände, die Bände Regale, die Regale grosse Räume, bis schliesslich Habakuk die grösste Bibliothek der Welt besass.
Als ich dem Alten zum ersten Mal begenete, – denn ich kenne Onkel Habakuk -, wollte ich meinen Augen kaum trauen. An einem schönen Sonnenabend, als ich im Walde spazierte, stand unvermutet ein kleines, uraltes Männlein vor mir. Er war mit den Jahren geschrumpft, kaum grösser war er als die Pilze, die am Stamm der Bäume wachsen. Ich hätte ihn vielleicht gar nicht beachtet, wenn er mich nicht gegrüsst hätte. Wir kamen ins Gespräch und so erfuhr ich von der Geschichte seines Neffen Ibrahim.
Ich besuchte ihn dann öfters, mit der Zeit wurden wir Freunde, bis ich ihn auch nur “Onkel Habakuk” nannte, wie sein Neffe in seinen Briefen.
Erlaubst du mir, Onkel Habakuk, fragte ich ihn, dass ich die Briefe des Ibrahim lese?
Er hatte nichts dagegen, bat mich sogar, ihm laut vorzulesen weil seine Augen schon schwach waren und er kaum mehr sehen konnte. So ging ich jeden Sonntag zu ihm, las ihm die Abenteuer seines Neffen vor und bekam auf diese Weise zu wissen, was Ibrahim erlebt hatte. Wir verbrachten viele Stunden zusammen, der Alte und ich. Wir freuten uns gemeinsam, wenn die Post von Ibrahim eintraf. Viele Geschichten hatte er geschrieben, nur auf die Frage, was Wahrheit ist und das Geheimnis des Menschen, konnte Ibrahim bis heute nicht antworten.
(Fortsetzung folgt)