Die Quadratur des Zirkels
Über die Welt, Gott und den Menschen nachzudenken ist ein zwingendes Bedürfnis des Geistes. Wie sieht der Anfang unserer Welt aus, wie der Weg, der hinterlegt wurde, wie die Zukunft? Es ist unbestritten, dass der jeweilige Ist-Zustand der physischen und geistigen Welt als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung betrachtet werden muss. Dieser Einsicht wird nur von unbelehrbaren Dogmatikern geleugnet, für die eine schöpferische, lenkende und ordnende Hand Gottes die Geschicke der Welt gestaltet. Aufgeklärte Köpfe meinen, der biologische Werdegang der Lebewesen sei durch die Evolution bestimmt, der geistige indessen durch die Entdeckungen der Wissenschaften, die mit Aberglauben und Transzendenz aufgeräumt haben. Bekanntlich nahm die biologische Evolution unvorstellbar lange Zeiträume in Anspruch, wogegen der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt „nur“ einige Jahrtausende benötigte, um, im Sinne unseres heutigen Erkenntnisstandes, die archaischen Vorstellungen der Menschheit von der Welt umzuwandeln. Doch eben dieser Fortschritt vermag heute den Prozess der Evolution verkürzen. Der genetische Code wurde entziffert, was die nicht unumstrittene Möglichkeit eröffnet, auf Tempo und Ausgestaltung der individuellen Merkmale des Einzelnen einzuwirken. Die Nanotechnologie soll Möglichkeiten anbieten, die bisher nur im Reich der Phantasie beheimatet waren. Kurzum, die Erkenntnisse der Wissenschaft liefern immer mehr Antworten auf die am Anfang aufgeworfene Frage. Allerdings reicht dies vielen Menschen nicht aus. Da der Mensch Gott unbedingt braucht, erfindet und schafft er ihn und bekleidet ihn notgedrungen, da ihm eine über-menschliche Begrifflichkeit fehlt, mit menschlichen Eigenschaften.
Das Problem des Schöpfergottes ist, dass er in offenem Widerspruch zu seinen Attributen steht; in den allermeisten Religionen ist die Gottheit „gut“. Wohl gibt es auch Glaubenssysteme, wo dem Gott des Guten ein Gott des Bösen Konkurrenz macht, oder das Gute und das Böse Söhne desselben Schöpfergottes sein sollen. Doch diese duale Auffassung hat es nie recht geschafft, einen Platz auf dem Siegerpodest der Weltenbeherrscher zu erobern und deshalb steht sie hier nicht zur Diskussion. Wir befassen uns mit den grossen monotheistischen Religionen, deren Vorstellung von einem allmächtigen Schöpfer gelenkt wird. Dieser ist bekanntlich nicht nur allmächtig, sondern auch Träger aller positiven Eigenschaften, wozu in erster Linie seine Güte gerechnet wird. Trotz gegenteiligen Berichten aus den heiligen Schriften, die oft auch von einem herrschsüchtigen, grausamen, verlogenen und nachträgerischen Gott erzählen, wird von den Gottesmännern hartnäckig kolportiert, dass Gott ein Wesen von unendlicher Güte sei. In dieser seiner Güte hat er die Welt erschaffen. Oh weh, da sind ihm aber etliche Konstruktionsfehler unterlaufen! Seine Schöpfung strotzt nämlich von „bösen“ Elementen. Wie konnte er nur das Böse mir seiner unendlichen Güte vereinbaren? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn die Lobhudelei der Gläubigen sein Werk verherrlicht. Es gibt hier nur zwei mögliche Antworten. Entweder ist Gott gut und böse zugleich, oder das Böse ist nicht von Gott. Zur Ehrenrettung des Schöpfers wurde die abstruse Geschichte des Sündenfalls erfunden. Die Schuld wurde dem Menschen in die Schuhe geschoben. Das Widersinnige im Sündenfall ist leicht ersichtlich. Es ist ein Versuch, Gott von der Verantwortung freizusprechen.
Zuerst wollen wir unser Augenmerk auf den Begriff „das Böse“ richten, wird doch unterschwellig Gott vorgeworfen, dass er das Böse duldet. Verheerende Katastrophen und unheilvolle Ereignisse sollten eigentlich vom „guten“ und fürsorglichen Gott gar nicht erst zugelassen werden. Doch eine Unzahl seiner Geschöpfe wird von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutschen, Hungersnöten und anderen vom Menschen nicht beeinflussbaren Ereignissen unter grossem Leid hinweggerafft. Warum? Oder warum können Epidemien ganze Landstriche ausmerzen, warum können grossartige Werke der Menschheit den Flammen ausgeliefert werden? Die Massen haben gebetet, Gott möge dem Brand der Kathedrale von Notre Dame Einhalt gebieten, ohne im geringsten danach zu fragen, warum er erst das Feuer zugelassen habe. Da war die Bemühung des Priesters Venetz aus der Gemeinde Fiesch im Kanton Wallis pragmatischer. Jahrzehntelang baten er und seine Vorgänger Gott, den Gletscher über dem Dorf langsam schmelzen zu lassen, damit die lästigen Überschwemmungen im Dorf aufhörten. Um dem Herrscher des Himmels die Petition wahrnehmen zu lassen, zog der Pfarrer mit seiner Herde jeden Sommer in einer Prozession durch die Strassen und trug dem Herrn lautstark den Wunsch – oder war es schon eine Forderung? – nach milderen Temperaturen vor. Und der Allmächtige erhörte die Gebete der Fiescher. Nur allzu gut, merkte man allmählich. Gott schickte die Erderwärmung los, der Gletscher schrumpfte stark, Felsen und Eisschollen begannen abzubrechen, das Dorf wurde durch Steinschlag und Eismassen bedroht. Halt ein, oh Herr, es ist jetzt genug getan! So wurde der Papst um Erlaubnis ersucht, das bisherige Gebet umkehren zu können. Die Prozession der Fiescher schrie nun nach Kälte. Der Pfarrer Venetz betrachtete wohl – wie viele andere Betende – das Gebet als den Warenkorb im Onlinehandel Gottes. Doch das Unheilvolle in den Katastrophen ist eigentlich nicht in die Kategorie des Bösen einzuordnen. Wer das nicht verstehen will, soll sich erneut in die Schule einschreiben.
„Gut“ und „Böse“ werden von den Theologen in eine moralische Wertordnung eingewiesen. Das Gute ist gottgefällig, das Böse sündhaft. Und hier entsteht Gottes Dilemma. Woher stammt das Böse und warum wird es von Gott zugelassen? In der Fachsprache der Theologen heisst dies das Theodizeeproblem. Die Frage kann nicht schlüssig beantwortet werden, weil ihr Ausgangspunkt falsch ist. Gut und Böse sind keine moralischen Werte, sondern psychische Aprioris. Sie entstammen aus dem steten Kampf ums Überleben: was sichert, ist „gut“, was bedroht, ist „böse“. Und so werden sie zu Bewertungskriterien des Über-Lebens. Bei dieser Betrachtung ist die Welt böse. Dies rührt daher, dass einerseits alle Lebewesen fressen müssen, – und was sonst können sie fressen, als andere Lebewesen ? -, und gleichzeitig sie sich wehren gegen das Gefressenwerden. Der Konflikt ist unausweichlich. Wenn ich dich nicht fresse, dann sterbe ich; wenn du mich frisst, dann sterbe ich ebenfalls. Wer überlebt? Der Stärkere. Das „Böse“ steckt im Gesetz des Stärkeren, nicht in der Nichtbeachtung von Gottes Gesetzen, nicht in einer moralischen Wertordnung. Wohl kann es durch moralische Richtlinien beim Menschen unter Kontrolle gehalten und entschärft werden, doch sein Ursprung ist „biologischer“ Natur. Konrad Lorenz hat die Verhaltensformen der Lebewesen unter diesem Aspekt aufgezeigt. Natürlich geht es in den zwischenmenschlichen Beziehungen nur selten um das Phänomen des Bösen in der Form von Kannibalismus. Doch während bei den Tieren bei Stillen vom Hunger die Aggression abflaut, hat der Mensch seine Aggression verselbständigt und findet sogar an der Gewalt gegen seinesgleichen Gefallen und Befriedigung. Das Böse ist also der Psyche inhärent. Hier finden wir die Lösung des Theodizee-Problems, das auf rein theologischer Ebene eine Art Quadratur des Zirkels ist, denn der „gute“ Schöpfer steht im Widerspruch zum Bösen. Mit der „biologischen“ Deutung wird Gott freigesprochen, sein Alibi ist, dass er nicht existiert. Gott, dieses anthropomorphe Gebilde verstrickt sich in Widersprüche, wofür auch das Dilemma von Gut und Böse steht. Der Glaube indes lässt auch Widersprüche und Sinnloses zu. Die Evidenz leugnen ist eine überhebliche Entwaffnung der Vernunft. Credo quia absurdum, ich glaube, weil es widersinnig ist. Und die Menschen umarmen unbeholfen das Absurde. Mit diesem Grundsatz kann man an alles glauben, was absurd ist, nicht nur im religiösen Bereich. Es war stets und bleibt bis heute die unwiderstehliche Versuchung der Unwissenden, das Widersinnige für wahr zu halten. Die Verschwörungstheorien finden im Glauben eine schützende Heimat. Im Glauben sucht man auch nach Abhilfe. Eine davon findet sich im Gebet. Das Böse mag doch dadurch neutralisiert werden.
Die Sinnlosigkeit des Gebets soll an einer anderen Stelle behandelt werden. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass das Gebet, wie die meisten Äusserungen des Glaubens, ein durch und durch anthropomorphe Erscheinung ist. Der Mensch meint, Gott dazu bewegen zu können, seine persönlichen Wünsche zu erfüllen. Der Priester Venetz ist ein gutes Beispiel dafür. Man könnte hier eine lange Reihe von absurden Beispielen anfügen, doch wir wollen nur zwei der zahllosen kabarettreifen Einfälle vorstellen. Im Mittelalter nahm die Marienverehrung eine solche Dimension an, dass sie die gängige Glaubenshierarchie zu verdrängen drohte. So wird von einem Zisterziensermönch berichtet, der von starken Versuchungen geplagt wurde. Da sprach er zu Jesus: Herr, wenn Du diese Versuchung nicht von mir nimmst, so werde ich mich bei deiner Mutter beschweren! Er mag dabei gedacht haben, dass Maria ihrem Sohn den Hintern verdreschen werde. Das Absurde nimmt seinen Lauf, als ein Bild den „Heiligen Napoleon“ verherrlicht hatte, mit einem entsprechenden Gebet, worin Napoleon als Schutzpatron der Kriegführenden verehrt wird. Seine später an die Macht gelangten Kollegen könnten ein wenig neidisch werden. Natürlich stellen solche Entartungen nicht die offizielle Praxis der Kirche dar, doch sie sind eine Nebenwirkung der anthropomorphen und abergläubischen Grundlagen des christlichen Glaubensgutes. Wohl hören wir den Aufschrei der Orthodoxen, dieses Glaubensgut sei schliesslich die Grundlage unserer Kultur. Es ist nicht zu leugnen, dass das Christentum bei der Entwicklung der westlichen Zivilisation eine bestimmende Rolle gespielt hat. Doch das bedeutet noch nicht, dass sein Abbau die Zivilisation zum Zusammenbruch führen würde. Nur die schleichende Machterweiterung des Islams stellt eine wirkliche Gefahr für unsere zivilisatorischen Werte dar. Man kann schliesslich den Teufel nicht durch Beelzebub austreiben.
Das Phänomen von Gut und Böse liegt nicht im Bereich ethischer oder religiöser Ordnung. Die Ratlosigkeit der Religionen angesichts des Theodizeeproblems kann durch theologische Überlegungen nicht behoben werden. Der Mensch kann Gott nicht aus der Patsche helfen. Umgekehrt funktioniert das auch nicht.