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Die Kirche bin ich

Es geschah am 8 Juli 1870, als sich das Vatikanische Konzil das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes zu erlassen anschickte. Ein verheerender Sturm naht Rom. Die Störung könnte heute in wenigen Sätzen von jedem Meteorologen als natürliches Phänomen erklärt werden, hat jedoch bei den versammelten Würdenträgern, die geneigt waren, in gewohnter, abergläubischer Manier übernatürliche Gründe dafür zu bemühen, widersprüchliche Reaktionen ausgelöst; die Gegner des Dogmas – davon gab es viele – sahen darin den Zorn Gottes, die Verfechter indessen deuteten das Unwetter als Ausdruck einer mächtigen Zustimmung aus dem Himmel. Die abweichenden Meinungen haben die Teilnehmer am Konzil gespalten. Eine ansehnliche Minderheit hat leidenschaftlich die Verkündigung des Dogmas bekämpft. Ein anwesender Theologe hat das Dogma als „Werk des Teufels“ bezeichnet. Papst Pius IX. hingegen, in erster Linie von den italienischen Kardinälen unterstützt, beabsichtigte mit aller Kraft seine Stellung und sein Ansehen zu stärken, die von den aufkommenden liberalen Strömungen im Schlepptau der Ideen der Französischen Revolution bedroht waren. Der Kampf des Papstes gegen den Modernismus war in erste Linie gegen die wissenschaftlichen Errungenschaften gerichtet, die zu den abergläubischen Deutungen der Phänomene durch die Kirche im Widerspruch standen. Die Unfehlbarkeit sollte sein Image aufpolieren und die Muskeln der Theologie zeigen. Selbst viele Theologen brachten Einwände gegen das Dogma vor, doch der Papst war nicht geneigt, auf diese zu hören. Es zählte nicht, dass einer seiner Vorgänger, Papst Honorius I. wegen Häresie exkommuniziert wurde, also im Kontrast zum Dogma stand, es zählte nicht, dass die Überlieferung keine Hinweise auf die Unfehlbarkeit lieferte. Im überheblichen Geiste von Ludwig XIV. von Frankreich erklärte der Papst: „Die Tradition bin ich, die Kirche bin ich“.

Wie alle seine beflissenen, diensteifrigen Untertanen war auch Pius IX. überzeugt, dass das göttliche Recht über dem säkularen stand. Das ist aber ISIS in Reinkultur. Das wird auch heute noch von kirchlichen Kreisen gerne vertreten. Es überrascht also nicht, dass mit dieser Mentalität der Präsident der Vereinigung der katholischen Juristen Italiens, ein gewisser Francesco d’Agostino in einem Radiointerview forderte, dass die nationalen Gerichte  in Fragen der unzähligen Missbräuche von Minderjährigen durch katholische Priester, ihre Nase nicht in die Angelegenheiten der Kirche stecken mögen weil diese Fragen ausschliesslich in die  Gerichtsbarkeit der kirchlichen Instanzen fallen. Auch dies ist ISIS in Reinkultur.

Doch kehren wir zu Pius IX. zurück. In Anbetracht der Gegnerschaft in den Reihen der Würdenträger am Konzil, verkündete der Papst – von einigen Gläubigen als Vize-Gott bezeichnet-, einige Regeln für die Redebeiträge der Prälaten, die substantiell jede freie und freiheitliche Meinungsäusserung im Keim erstickten … ein Kunstgriff, der auch heute noch von herrschenden Politikern praktiziert wird. Im Gegensatz zu früheren Konzilien wurden zum Konzil keine Mitglieder von Königshäusern eingeladen, auch nicht der italienische König, der die Annexion der Stadt Rom ins Gebiet des italienischen Staates befürwortete: eine Massnahme, welche der Stellung des Papstes stark geschädigt hätte.

Das neue Dogma hat während langer Zeit keine konkrete Anwendung gefunden. Es bedurfte einer Entscheidung von Pius XII., der sich vergnügte, dieses merkwürdige Spielzeug auszuprobieren und die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel verkündete. Es ist befremdend, dass es Menschen gibt, die einen solchen sinnlosen Irrglauben akzeptieren. 

Dieses anthropomorphe Märchen entsetzt auch einige Theologen. Es würde schon eine einfache, oberflächliche Überlegung ausreichen, um die Notbremse zu ziehen, bevor ein solches Dogma verkündet wird. Wir stellen uns Maria vor, die vor den Augen von eingeladenen Gästen in den Gefilden des Himmels entschwindet. Die Kugelform der Erde, die auf der gesamten Oberfläche die Richtung nach oben ermöglicht, erlaubt eine eindeutige Zuordnung der Fahrtrichtung Marias nicht. Einmal im Himmel angekommen, stellt sich die Frage nach einem Detail: ein Ort, der einen menschlichen Körper aufnimmt, muss räumlich dreidimensional sein. Also ist der Himmel – aufgrund dieses Dogmas – dreidimensional. Einstein hat uns aber gelehrt, dass dies auch Zeitlichkeit bedeutet, also notwendigerweise ein Vorher und Nachher einschliesst, demnach auch ein Altern verursacht. Ich überlasse es dem geneigten Leser, den Gedanken weiter zu flechten. Pius XII. hat sich die Frage nicht gestellt, wie Maria in 100’000 Jahren aussehen wird. 

Was bedeutet das Dogma der Unfehlbarkeit konkret?. Diese Fähigkeit beschränkt sich auf den Fall, dass der Papst sich als höchste Autorität der Deutung der Wahrheit des Glaubens und der Sitte äussert. Er ist also keineswegs unfehlbar, wenn er Wettervorhersagen macht oder die Lottogewinnzahlen vorhersagt. Manch einer hätte diese Variante bevorzugt.